Dienstag, 27. Februar 2018

Rezension: Thomas Hardys Tess


Inhalt

Tess Durbeyfield stammt aus einfachen bäuerlichen Verhältnissen. Doch ein Pfarrer entdeckt, dass ihre Familie von den ehemals mächtigen d´Urbervilles abstammt. Tess´ Eltern sind entzückt, preisen sich in der gesamten Nachbarschaft mit ihren berühmten Ahnen und schicken Tess schließlich zu in der Nähe lebenden d´Urbervilles, um etwas aus den reichen Verwandten für ihre arme Familie herauszuholen. Sie wird von ihrem „Cousin“ Alec angestellt, der Gefallen an ihr findet und sie schließlich verführt oder vergewaltigt, was im Buch nicht aufgeklärt wird. Tess wird schwanger, ihr geborenes Baby stirbt allerdings nach einigen Monaten und Tess sucht sich weit entfernt von ihrem Dorf eine Tätigkeit als Melkerin, um der Verachtung und Missbilligung ihrer Nachbarn zu entgehen. Dort verliebt sie sich in den Pfarrerssohn Angel Clare, doch ihre Vergangenheit holt sie immer wieder ein…

Meinung

Vor dem Lesen dieses Buches habe ich bereits die BBC-Verfilmung von „Tess“ mit Gemma Arterton und Eddie Redmayne in den Hauptrollen gesehen, somit war mir die Handlung vorher bekannt. Trotzdem konnte mich dieser Roman von der ersten Seite an fesseln wie schon lange kein Buch mehr. Es gefiel mir noch einmal deutlich besser als die ohnehin schon sehr gute Verfilmung. Man konnte es trotz eines anspruchsvollen Schreibstils sehr gut lesen und es war über viele Seiten hinweg durchaus sehr spannend, obwohl es auch über die üblichen sehr ausführlichen Landschafts- und Personenbeschreibungen verfügt. Diese halfen ebenso enorm dabei, sich die damalige Landschaft Englands vorzustellen. Außerdem schildert Hardy die Entwicklungen in der Landwirtschaft und technische Neuerungen sehr anschaulich, man bekommt einen guten Einblick in die Schwere der Arbeit und kann sich so sehr leicht in das viktorianische England zurückversetzen.
Genauso überzeugt die Herausarbeitung der Hauptcharaktere und ihre meist schlüssige, einfühlsam geschilderte Weiterentwicklung. Mit Tess kann man von der ersten Seite an bloß mitfühlen, wie sie trotz einiger Schicksalsschläge immer wieder aufsteht und weiterkämpft, doch man entdeckt auch eine gewisse Tragik in ihrer Person und bekommt das Gefühl nicht los, dass ihre Geschichte kein glückliches Ende nehmen kann. Auch die beiden männlichen Hauptfiguren – Angel und Alec – werden von Hardy sehr überzeugend gezeichnet. Angel gewinnt man neben Tess durchaus lieb, man erlebt ihn fast schon als eine Art Freigeist, doch auch er ist nicht frei von dieser sexuellen Doppelmoral seiner Zeit, die der Autor mit diesem Roman kritisieren will. Angel hatte ebenso wie Tess Sex vor der Ehe (die Frage, ob gewollt oder ungewollt, kann man sicherlich erst einmal außen vor lassen), doch während Tess ihm dies verzeiht, kann er mit ihrem Geständnis nicht umgehen und verlässt sie, wenn auch eventuell nicht für immer. Hardy schildert Tess an sich als eine gute, reine Frau, doch sie trifft die volle Ablehnung durch die Gesellschaft, da sie vor der Ehe schwanger wird und ein Kind bekommt, was ihr tragisches Ende entscheidend beeinflusst. In diesem Zusammenhang liegt mein einziger Kritikpunkt am Roman. Das Verhältnis oder die Beziehung, in der Tess zu Alec d´Urberville steht, wird nicht völlig klar. Von großer Wichtigkeit wäre zu wissen, ob Tess nun von Alec verführt oder vergewaltigt wurde. Die Szene wird überhaupt nicht beschrieben, was nun völlig normal für die damalige Literatur war. Doch auch durch die späteren Dialoge zwischen beiden wird nicht wirklich ersichtlich, ob es Verführung oder Vergewaltigung war. Mit allem Verständnis für damalige literarische Konventionen, hier in diesem Fall wäre genaues Wissen über Alec´ und Tess` Nacht miteinander äußerst wichtig gewesen, um Tess´ nachfolgendes Handeln zu verstehen. So wirkt sie immer wieder sehr widersprüchlich in ihrem Verhalten Alec gegenüber. Man versteht nicht, warum sie ihn nicht entscheidender von sich weist, wobei man deutlich merkt, wie unangenehm ihr ein Wiedersehen ist. Daher fand ich es auch etwas unschlüssig, dass sie sich wieder auf ihn einlässt, was man zwar auch mit der Notlage, in der sich ihre Familie befindet, erklären kann, doch dann fehlen dem Leser immer noch wichtige Anhaltspunkte, um Tess´ Verhalten Alec gegenüber komplett nachvollziehen zu können, insbesondere ihre „Rache“ am Ende, die ich für überzogen halte.
Sehr gut an dieser Tess-Ausgabe ist auch noch das Nachwort, das einem viele hilfreiche Informationen rund um die Entstehung des Buches bietet. Man kann das Buch besser in seiner Zeit einordnen und erfährt viel darüber, wie es von der damaligen Leserschaft aufgenommen wurde.

Fazit

Eine sehr einfühlsam geschriebene Geschichte um das traurige Schicksal einer Frau, die sich durch einige Schicksalsschläge kämpfen und insbesondere unter den oftmals grausamen Moralvorstellungen der viktorianischen Zeit leiden muss. Das Buch lebt von seinen nachfühlbar gezeichneten Charakteren, gelungenen Schilderungen der ländlichen Begebenheiten im viktorianischen England und sehr viel Gefühl, was es zu einem wirklichen Klassiker der Weltliteratur macht. Ich kann es nur jedem wärmstens ans Herz legen.

4,5 von 5 Punkten


Buchinfos:
Taschenbuch, 592 Seiten
ISBN: 978-3-423-14188-8
Erschienen in: 2013
Originaltitel: Tess of the d'Urbervilles
Preis: 9,90 €

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