Inhalt
16000 Briefe von deutschen Wehrmachtssoldaten besitzt das Museum für Post und Kommunikation in Berlin, die diese während des Zweiten Weltkriegs an ihre Angehörigen daheim verfasst haben. Die französische Historikerin Marie Moutier hat diese gesichtet und eine Auswahl in ihr Buch übernommen. Chronologisch sortiert, erlebt man etwa den Einfall in Polen, den Kampf um Frankreich, das Unternehmen Barbarossa, die Schlacht um Stalingrad, die Kämpfe in Afrika, die Landung der Alliierten in der Normandie oder das Hitlerattentat aus der Sicht einfacher Soldaten, die vor jedem abgedruckten Brief auch kurz vorgestellt werden.
Meinung
Nach einem Vorwort des Historikers Timothy Snyder bietet das Buch zunächst allgemeine Informationen zu der Briefsammlung und dem Ablauf der historischen Ereignisse. Moutier erläutert ihre Vorgehensweise, Briefe für das Buch auszuwählen, was diese allgemein beinhalten konnten, inwiefern die damals statt findende Zensur Einfluss auf den Inhalt der Briefe nahm, obwohl selbstverständlich nicht alle Briefe überprüft werden konnten, und wie sich Briefe unterscheiden konnten, die man an seine Eltern oder seine Partnerin schrieb. Sie sollen die Menschlichkeit der Soldaten deutlich machen, die unterstreichen solle, wozu Menschen im Krieg fähig seien. „Es geht darum, sich von den im kollektiven Gedächtnis verankerten Bildern der Nürnberger Naziaufmärsche und dem rhythmischen Klang der Stiefel zu lösen, in denen alle Soldaten sich gleichen, im Stechschritt marschierend wie ein Körper. Ihnen ihre Individualität, ihre Menschlichkeit zurückzugeben, ist unabdingbar, wenn man verstehen will, was der Zweite Weltkrieg war. Diese Kämpfer Hitlers als Individuen zu sehen, mag Unbehagen auslösen. Doch auf genau dieses Unbehagen kommt es an: Indem wir sie als Menschen betrachten, wird die Katastrophe des Krieges nur noch schrecklicher. Diese Apokalypse wurde von Menschen gemacht. Die Soldaten der Wehrmacht zu entmenschlichen, wäre ein Fehler. Wie kann man diesen Krieg verstehen, wenn man von vornherein postuliert, die Soldaten und die Henker seien nichts als Schachfiguren im Dienste einer Ideologie gewesen?“ (S. 12) Daraufhin werden die Kriegsabläufe in Polen, Frankreich und in der Sowjetunion noch zusammengefasst und erläutert, wie diese Ereignisse und die Erlebnisse mit der Zivilbevölkerung und im Soldatenalltag sich in den Briefen darstellen.
Danach kommen nun die Soldaten selbst zu Wort. Die Briefe sind chronologisch abgedruckt und in drei Überkapitel eingeteilt (1939-1941, 1942-1943, 1944-1945). Sie setzen im September 1939 in Polen ein und enden Ende des Jahres 1945 mit einem Soldaten, der immer noch nach seiner Familie sucht. Allen Briefen ist ein Kurztext vorangestellt, in dem der Briefschreiber vorgestellt, sofern Informationen zu seiner Person vorliegen, und sein Kriegsschauplatz erläutert wird. Außerdem werden Begriffe, Orte, Andeutungen in den Briefen durch Fußnoten erklärt. Von einigen Soldaten werden auch mehrere Briefe abgedruckt. Zum Schluss bietet das Buch noch Literaturtipps zum Thema und ein Inhaltsverzeichnis.
Man erhält durch die Briefe einen ganz neuen Blickwinkel auf die Ereignisse an den verschiedenen Fronten. Moutiers zu Anfang formuliertes Ziel, die Soldaten als Individuen, als Menschen darzustellen, gelingt absolut. Wir erleben sie in ihren Briefen als ganz normale Menschen mit ganz normalen Alltagssorgen, deren Kriegserlebnisse nur einen Teil ihres Lebens darstellen. Sie sind gleichzeitig zu zärtlichen Worten zu ihren Frauen fähig, über deren Situation in Deutschland sie sich Sorgen machen und deren Untreue sie fürchten. Viele Briefe sind vom Rassedenken der Nationalsozialisten durchzogen, andere klingen wesentlich differenzierter, viele drehen sich um die täglichen Essenssorgen und die Wünsche an Gegenständen und Essen, die die Soldaten von ihren Verwandten daheim zugeschickt bekommen möchten. Von wenigen hört man auch kritische Stimmen und im weiteren Verlauf des Krieges bei vielen den immer größer werdenden Wunsch nach Frieden, Heimkehr und Ruhe. Der Schrecken, den die Soldaten an der Front durchleben mussten, lässt sich oftmals nur zwischen den Zeilen erahnen, da viele zur Beruhigung ihrer Angehörigen die Zustände herunterspielten und natürlich immer die Zensur eine Rolle spielte. Die Soldaten schrieben nicht alles, was sie vielleicht hätten sagen wollen, das muss man immer mit bedenken. Mir hatte diese Sammlung eine neue Sicht auf den Zweiten Weltkrieg eröffnet. Es sind nicht mehr kaum zu fassende, abstrakte Soldaten, die diese schlimmen Taten begangen haben, sondern Menschen wie du und ich, was mich nicht kalt ließ. Ich habe seit meiner späten Kindheit sehr, sehr viele Bücher zum Thema Nationalsozialismus gelesen, doch selten hat mich ein Buch, das die Position der „Täter“ darstellt, so berührt wie dieses hier. Sie taten mir vielmals wirklich leid, keinem Menschen wünscht man solche Erlebnisse, und ich musste wirklich oftmals schlucken, wenn man etwa erfährt, dass der Mensch, der diesen einen Brief geschrieben hat, vielleicht auch mit dem Wunsch, endlich Urlaub zu bekommen, um seine Familie und sein Neugeborenes sehen zu können, drei Tage später ums Leben kam. Moutier gelingt eine eindrucksvolle Sammlung an Zeugnissen des Zweiten Weltkriegs, die die Forschung, die versucht, den Blickwinkel mehr auf die Menschen hinter den Taten zu öffnen, sehr bereichert und ein wichtiges Plädoyer gegen jeden Krieg ist.
Eine Kleinigkeit muss ich jedoch noch kritisieren, die allerdings nur die deutsche Ausgabe betrifft. Es befanden sich in den kurzen Erläuterungen und Vorstellungen der Soldaten vor den Briefen immer wieder Tippfehler, auch falsche Jahresangaben, so sollte etwa ein Soldat 1940 erst geboren worden sein, die besser hätten geglättet werden sollen.
Fazit
Ein sehr wichtiger, auch rührender Beitrag zur Erforschung des Zweiten Weltkriegs, der den deutschen Wehrmachtssoldaten ihre Menschlichkeit und Individualität wiedergibt. Für jeden Geschichtsinteressierten ist dieses Buch wärmstens zu empfehlen, es eröffnet noch einmal eine neue Sicht auf die Kriegsereignisse des Zweiten Weltkriegs, die zum Verständnis dieses schrecklichen Krieges einiges beizutragen hat.
4,5 von 5 Punkten
Buchinfos:
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 384 Seiten
ISBN: 978-3-89667-552-1
Erschienen am: 30. März 2015
Originaltitel: Lettres de la Wehrmacht
Preis: 22,99 €
Ein großes Dankeschön an den Blessing Verlag für das bereit gestellte Rezensionsexemplar!
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